Flammarions Holzstich, auch Wanderer am Weltenrand oder französisch übersetzt „Pilgerschaft“ genannt, ist das Werk eines unbekannten Künstlers. Der Holzstich erschien erstmals 1888 als Illustration in dem Unterkapitel La forme du ciel („Die Form des Himmels“) des populärwissenschaftlichen Bandes L’atmosphère.
Die Darstellung zeigt einen Menschen, der am Horizont, als dem Rande seiner Welt, mit den Schultern in der Himmelssphäre steckt und dahinter weitere Welten erblickt.
Gemäß dem mittelalterlichen Weltbild lag hinter den Himmelssphären, außerhalb des Fixsternhimmels, noch ein Kristallhimmel und darüber der Feuerhimmel (das empyreum). Flammarions Holzstich zeigt hier Dinge auf, über deren Deutung bis heute gerätselt wird und über die der Bildtext keine Erklärung bietet.
Der Rahmen des Holzstiches
Das Bild wird durch einen auffallenden Rahmen gefasst, in den verschiedene Ornamente und Figuren eingelassen sind sowie zu beiden Seiten je eine Säule mit einem Aufsatz, ähnlich einer Fiale gotischer Kathedralen mit Tabernakel und Kreuzblume. Erinnert dies nicht auch im weiteren Sinne an die beiden Säulen Jachin und Boas? Siehe hierzu auch meinen gleichnamigen Blogbeitrag für weitere Erläuterungen.
Im unteren Rahmenbereich ist eine buchähnlich aufgeschlagene Schriftrolle zu sehen, die allerdings keine lesbaren Zeichen trägt. Könnte dies symbolisch auf die heilige Schrift hinweisen? Der Holzstich wurde im Unterkapitel mit dem Namen La forme du ciel („Die Form des Himmels“) veröffentlicht. Ist die heilige Schrift, die im Allerheiligsten im Tempel in der Bundeslade liegt, nicht auch eine Offenbarung über den Weg ins Himmelreich?
Die Symbolik des Bildes
Der Stab, den der Mensch in der linken Hand hält, kann eine Andeutung an den Asklepiosstab, einem Symbol der Heilkunde, sein. Er steht in der Mystik für das Heilwerden des Menschen und hat seinen Ursprung in der Thora. Heilwerdung ist nicht im Sinne einer gesundheitlichen Wiederherstellung nach Krankheit zu verstehen, das zwar auch, sondern als eine Bewusstwerdung, dass der Mensch als Abbild G-ttes geschaffen ist, der Himmel und Erde als Gegensätze in sich vereint (auch die Gegensätze Krankheit und Gesundheit) und aus diesem Wissen heraus sein Leben orientiert.
Im Exodus ist dieser Stab von Bedeutung. Als Moses nach G-ttes Willen wieder nach Ägypten zog, um seine göttliche Mission zu erfüllen, hat er den Stab G-ttes, wie es in der Übersetzung heißt, in den Händen mit dabei (Ex. 4,20). Auch im weiteren Verlauf des Exodus spielt der Stab immer wieder eine Rolle. Und geht es nicht im Exodus letztendlich um den Auszug aus Ägypten, den Auszug aus dieser Welt und um den Weg durch die Wüste ins gelobte Land? Die Wüste als bildhafter Ausdruck für das Gespräch des Menschen mit G-tt, wo er ja gerade unsere Welt der Zweiheit verlässt und den Weg durch die himmlischen Paläste anstrebt.
Mit dem Kopf ragt der im Holzschnitt dargestellte Mensch hinüber ins Jenseitige, in die Himmel. Mit dem Kopf durchbricht er die Schwelle der diesseitigen, zeit-räumliche Welt.
Vom Menschen wird im alten Wissen gesagt: „Seine Füße stehen auf der Erde, sein Haupt ist im Himmel.“ Der Mensch hat zwei Beine und zwei Arme; zusammen sind es vier Glieder, die dem Haupt des Menschen als Eins, der Quintessenz, gegenüberstehen.
Passend dazu der Gesichtsausdruck des Menschen, der dem Bildbetrachter in dieser Perspektive entzogen bleibt, da er seinen Blick von der Erde abwendet und dem Himmel entgegensieht.
Ebenso wird der menschliche Körper im alten Wissen von Hals bis zum Fuß in vier Bereiche untergliedert. Diese vier Ebenen werden auch den vier kabbalistischen Welten zugeordnet. Siehe hierzu die Abb. 1.
Der Dritte Himmel
Gemäß dem mittelalterlichen Weltbild der Visio Godeschalci, dem Visionsbericht des Bauern Gottschalk aus dem 12 Jhd., lag hinter den Himmelssphären, außerhalb des Fixsternhimmels, noch ein Kristallhimmel und darüber der Feuerhimmel (das empyreum).
So heißt es in Godeschalcus und Visio Godeschalci mit deutscher Übersetzung: „Man behauptet, dass der Himmel ‚Empyreum‘, d. h. ‚ganz aus Feuer‘ heiße, und zwar allein nach seinem Strahlenschein, nicht auch nach der Hitze; und das sei auch, so will man, der ‚Dritte Himmel‘, zu dem Paulus nach seinem Selbstzeugnis“ (2. Kor. 12,2) „entrückt worden ist; denn man setzt als ersten den Luftraum, als zweiten das Firmament und diesen als dritten in der Reihe.“ Im Englischen gibt es heute noch das Wort Empyrean Heaven (Siebter Himmel).
Dieser ‚Dritte Himmel‘ lässt auch einen passenden Bezug zum dritten Mutter-Buchstaben im Hebräischen, der Schin, zu, der dem Element Feuer zugeordnet wird. Friedrich Weinreb schreibt hierzu:
Die Schin ist das, was ausgedrückt wird als die 'Himmel', außen, oben, und das außerdem das Weltall mit allem darin umfaßt. [...] Es ist das, was absolut nicht nur im Raum, im 'ruach', ausdrückbar ist, nicht nur in Materie, in 'majim' ausdrückbar ist, sondern etwas, das wieder getrennt davon steht und doch alles andere umhüllt und umfasst. Es ist das, was man bei den Elementen das Element 'esch', 1-300, nennt, das Feuer. Nicht die Flamme im Herd, das ist es auch, glücklicherweise. Auch da äußert es sich. Vor Babel, Die Welt der Ursprache, S. 362
Auch hier ist diese Dreiheit zu finden: Die Alef, der erste Mutterbuchstabe, der für das Element Luft, ,ruach‘ steht, die Mem, der zweite Mutterbuchstabe, der für das Element Wasser, ‚majim‘, steht, und die Schin, der dritte Mutterbuchstabe, der für das Element Feuer, ‚esch‘, steht.
Auf dem Holzstich ist der Himmel durch mehrere kreisähnliche, voneinander abgesetzte und aufeinanderfolgende Streifen oder Schichten, die flammenförmig (Feuerelement) und wolkenförmig (Luftelement) ausgestaltet sind, dargestellt.
Erreicht der Mensch die ,olam azilut‘, so heißt es im alten Wissen, dann steht er dort allein als ,Adam Kadmon‘ in der Gegenwart, im Angesicht G-ttes. Und in ,Adam Kadmon‘ wird, so wird es geschrieben, auch der Messias gesehen, der Christus, womit auch das Wort Kristall in Zusammenhang steht.
Und er zeigte mir einen lautern Strom des lebendigen Wassers, klar wie ein Kristall; der ging aus von dem Stuhl Gottes und des Lammes. Die Offenbarung des Johannes, 22,1
Schließlich dürfen die zwei Scheiben und das Paar ineinandergefügter Räder in der Betrachtung des Holzstiches nicht fehlen, die sich alle in den wolkenförmig ausgestalteten Himmelsschichten befinden.
In der Überlieferung wird vom Geheimnis des ,ophan‘, d.h. des Rades erzählt. Die ,ophanim‘ sind bei G-tt; sie bewegen und drehen sich, wodurch die Punkte auf dem Rad beständig eine andere Lage einnehmen. Wenn ein Punkt infolge der Drehung unsere Realität berührt, wird er hier wirklich, d.h. er tritt in das Bewusstsein des Individuums ein. Sie stehen für die großen Zyklen der Weltzeiten, aber auch für jeden zeitlichen Rhythmus wie das Jahr und den Tag. Auch jedem Wesen ist ein ,ophan‘ zugeordnet, das den Verlauf seines Lebens bestimmt.
Passend hierzu ist der Untertext zum Bild des Holzstiches in Flammarions Buch:
Ein Missionar des Mittelalters erzählt, dass er den Punkt gefunden hat, wo der Himmel und die Erde sich berühren … Camille Flammarion: L’atmosphère, Paris 1888, S. 163