Von der Ecke im Jenseits und dem Brauch des Nothhalm

Aus der Mathematik und speziell aus dem Bereich der Geometrie ist das Zeichnen von eckigen, geometrischen Körpern bekannt. Auch beim Satz des Pythagoras wird ein rechtwinkliges Dreieck mit insgesamt drei Ecken auf Papier gezeichnet. Warum es trotzdem in unserer diesseitigen Welt keine Ecken gibt und was ein Engel und die Getreideernte damit zu tun hat, darum soll es in diesem Artikel gehen.

Friedrich Weinreb, der selber auch als Professor von 1952 bis 1968 Inhaber des Lehrstuhls für Ökonometrie und Statistik war, schreibt in seinem Buch „Schöpfung im Wort“, dass es in der Mathematik keine wirklichen Ecken gibt. In der Mathematik sei das bekannt, sagt Weinreb, denn eine wirkliche Ecke müsste im Eckpunkt das Nulldimensionale erreichen und gerade so etwas gibt es hier nicht. Es ist immer ein bisschen rund, immer nur eine Beinahe-Ecke, eine Grenzwert-Ecke. Soweit zum Blick auf die Betrachtung aus unserer rein zeit-räumlichen Welt.
Betrachten wir das hebräische Wort für Ecke, geschrieben ,kanaf‚, dann bedeutet es übersetzt: etwas ‚vollkommen neues‘. Die Ecke, die für das Neue steht, steht der Rundung, die einen kontinuierlichen, allmählichen Übergang darstellt, gegenüber.
Ein Mensch, der im Leben nur Sicherheit sucht und unerwartete Ereignisse im Leben gerne ausschließt, der erfährt keine ‚Ecke‘ im Leben, das jenseitige kann sich in ihm nicht zeigen, wird ignoriert, der Mensch bleibt in seinem Trott, in seinem gewohnten Alltag.

Das Wort ‚kanaf‘, 20-50-80, kann sowohl mit ‚Flügel‘, als auch ‚Ecke‘ übersetzt werden. Wer Flügel hat, der kann sich in höhere Welten erheben, von einer Welt in die andere. Der Mensch wird im alten Wissen als eine Vierheit gesehen. Jeder dieser Welten hat eine Ecke. Die Welt, in der wir leben, ist die ,olam assia‘, die Welt des Tuns, die ‚unterste‘, vierte Welt. Am Anfang jeder der vier Welten gibt es am Übergang eine Schwelle. Diese Schwelle entspricht auch dieser Ecke. Jede Welt für sich ist vollkommen neu und es heißt, dass an dieser Schwelle die Engel stehen, denn der Engel ist das einzige Wesen, das definitionsgemäß eine ‚Ecke‘ machen kann.
Im Englischen heißt ein Engel ja auch angel, und werden hier die letzten beiden Buchstaben vertauscht, so lesen wir ‚angle‘, das englische Wort für Winkel. Auch die Angel, also der Fischhaken, ist verwandt mit dem Engel. (Mit dem Angelhaken, ‚zade‘, fischt der Zaddik den Fisch, die ’nefesch‘ aus dem Wasser, aus dem Zeitlichen).

Überschreitet der Mensch diese Ecken, kommt er in immer höhere Welten und nähert sich seinem Ursprung. Dadurch erkennt sich der Mensch erst selbst und sieht, dass er Flügel hat. Natürlich hat der Mensch hier in unserer Welt keine Flügel, hier ist nur die körperliche Hülle des Menschen zu sehen. Der Engel ist als Teil des ganzen Menschen zu betrachten, d.h. dort ‚oben‘, auf dem Weg zum Wesentlichen ist der Mensch der Engel.
Der eigene Schutzengel ist das, was dort oben vom Menschen anwesend ist. Dort kann der Mensch eine Ecke machen, wodurch der Mensch sich nach oben erheben kann. Bildlich wird dies in Kirchen oft als ein Engel mit Flügeln dargestellt.
Der Mensch steht dort oben mit vier Flügeln, zwei rechts und zwei links, so wie es auch vier Welten mit vier Ecken gibt. Diese vier Flügel, die eine Einheit bilden, leiten den Menschen bis ins Wesentliche, bis zu seinem Ursprung.

Die Getreideernte und der Brauch des Nothhalm

In dieser Welt kann nie alles schlüssig sein, denn das letzte Glied der Kette liegt im Jenseitigen. Wer es doch versucht, dem bleibt immer ein unerklärlicher Rest, das Weinreb das ‚Überbleibsel Israels‘ nennt.
Das bedeutet, dass an jeder Ecke des Feldes, das abgeerntet wird, die Ecke von einer anderen Welt ist und das Gewachsene dort stehen bleibt. Die Ecke darf man nicht wegnehmen. Denn im Wesentlichen ist es auch so. Die Ecke steht für das Unerklärliche.

    Wenn ihr die Ernte eures Landes einbringt, sollst du den Rand deines Feldes nicht vollständig abernten und keine Nachlese nach deiner Ernte halten.

    3. Mose 19,9

Wer sich mit alten Bräuchen beschäftigt, der kennt vielleicht auch den Aswald, oder den Brauch des Nothhalm (Min. 6:40). Der Brauch beschreibt dies in ähnlicher Weise, nämlich, dass bei der Getreideernte ein ‚Büschel‘ in der Nähe des Weges stehengelassen wird.
Zeigt sich auch hier in den alten Bräuchen der Ausdruck des Wesentlichen? Wesentliche Prinzipien drücken sich einfach zu bestimmten Zeiten in bestimmten Formen in unserer zeit-räumlichen Welt aus. Unabhängig davon, ob der Brauch des Nothhalm heidnischen oder christlichen Ursprungs ist, es zeigen sich hier Aspekte des Ewigen.

Im Buch „Bayerische Sagen und Bräuche, Erster Band“ von Friedrich Panzer, herausgegeben 1848, ist eine gesammelte Sage hierzu nachzulesen:


Wenn in Niederpöring eine gattung getreid, nemlich roggen oder weizen, eines bauerngutes ganz abgeschnitten ist, bleibt auf dem letzten acker der letzte büschel stehen, am liebsten in der nähe des weges, wo er von den vorübergehenden gesehen werden kann. in die mitte dieses büschels wird ein Stab gepflanzt, dann werden die stehen gebliebenen ähren mit noch anderen abgeschnittenen um den stock so gebunden, dass eine menschenähnliche figur daraus wird. die stehen gebliebenen und beigebrachten ähren mit dazwischen gesteckten feldblumen, werden so gebunden, dass kopf und hals entsteht. die beigebrachten ähren werden je drei halme zusammengeflochten; mehrere dieser zöpfe zusammengenommen bilden die arme der figur, welche beide Hände auf die Hüften stützt. ein gürtel trennt den oberen theil des körpers von dem unteren; das lange kleid bilden die stehen gebliebenen halmen. diese figur heisst man den Aswald. während die burschen den Aswald machen, sammeln die mädchen die schönsten feldblumen und schmücken ihn damit; dann knieen alle im kreis herum, danken und beten, dass das getreid wieder gewachsen ist, und, dass sie sich nicht geschnitten haben. nach dem gebete wird um den Aswald ein walzer getanzt, alles jubelt und freut sich. die lust wird erhöht, wenn jemand mit dem klarinette oder der schwergelpfeife zum tanz spielen kann.

In einigen gegenden Niederbayern's wird der Aswald nicht mehr mit dieser sorgfalt gemacht; die schnitter lassen einige ähren stehen, binden sie zusammen, und schmücken sie mit blumen; sie knieen herum und verrichten ein dank-gebet. einige machen mit der rechten hand, ohne die linke zu gebrauchen, mit den drei stehengebliebenen halmen einen knoten, den sie mit blumen zieren, man sagt dabei: „das ist für den Aswald, oder Aswal." der Aswald ist aber auch allgemein unter der benennung nothhalm bekannt.

"Bayerische Sagen und Bräuche, Erster Band", herausgegeben 1848 von Friedrich Panzer, S.241

Erinnert dieser Brauch nicht an den heute eher bekannten Strohmann bzw. die Vogelscheuche? Der Strohmann wird allerdings aus Grund des Nutzens für den Ernteertrag aufgestellt; nicht als Ausdruck des Wesentlichen, nicht für die Ecke, für das Unerklärliche stehend.

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