Wer hat sie nicht schon einmal gesehen, die beiden Säulen Jachin und Boas, wie sie nicht nur aus der Bibelgeschichte als die beiden Säulen vor dem Tempel Salomos bekannt sind, sondern auch aus Abbildungen von freimaurerischen Arbeitstafeln, die ihr Motivbild vom Tempelbau unter König Salomo aus der Bibel (bzw. der Thora) entnommen haben?
Als ich vor einigen Wochen in alten Büchern stöberte, die ich digital als PDF auf dem Rechner vorliegen habe, stoße ich auf ein Buch aus dem Jahre i663, mit einem wunderschönen malerischen Einbandmotiv mit dem Titel ‚Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubtsprache‘ – gedruckt in Braunschweig.
Die beiden großen Säulen sind auf dieser abgebildeten Zeichnung wohl kaum zu übersehen. Natürlich dachte ich sofort an die beiden Säulen Jachin und Boas und lenkte meinen Blick auf die detaillierte Darstellung der Säulen und untersuchte die Gemeinsamkeiten mit den Darstellungen, wie sie in biblischer Literatur des Alten Testamentes beschrieben sind und auch auf den im Internet zu findenden Schaubildern der Freimaurerei abgebildet sind:
- Die prominente Darstellung der Säulen im Vordergrund und die beiden Kapitelle (1.Könige 7,16)
- Ein breiter Sockel der beiden Säulen mit malerischen Motiven darauf (2.Chronik 3, Fußnote 7:16)
- Die Zierde der oberen Säule mit lilienförmigen Gebilde (1.Könige 7,22)
- Die von oben herabhängenden kettenförmigen Bänder (2.Chronik 3,16)
- Die häufig dargestellten Kreise auf den Säulen, symbolisch für das große und kleine Licht ( Nach 1.Könige 7,22 sind dort lilienförmige Gebilde angebracht, laut Weinreb ist dort eine Krone. „Der Weg durch den Tempel“ S.456)
Hierbei gilt es zu wissen, dass Bücher damals nicht ‚einfach so‘ geschrieben und verlegt werden konnten – der Buchdruck selbst war ja auch eine hohe Hürde – sondern dass im Normalfall ein Adeliger oder Geistiger einen Auftrag an einen Schriftsteller oder Gelehrten vergibt. Ohne Genehmigung und inhaltlicher Überprüfung und Anpassung des Adels oder der Kirche wurde kein Buch veröffentlicht bzw. gedruckt.
Einfluss jüdischer Gelehrter in Mitteleuropa
Der Einfluss der hebräischen, jüdischen Überlieferungen – also auch die Auslegungen des Alten Testamentes – erlebte trotz Verfolgung und Pest im Mittelalter in Mitteleuropa eine Blütezeit und einige bekannte jüdische Gelehrte verbreiteten die Lehren, die wohl auch in der Adelsschicht und der gehobenen Gesellschaft an Bedeutsamkeit erlangte. Viele Gelehrte und bekannte Persönlichkeiten dürften auch im Einweihungswissen der jüdischen Mystik bzw. der westlich geprägten Ansichtsweise und Interpretation dessen gelehrt worden sein. Dies wäre eine Erklärung, warum die Säulen auf einigen Büchern zu finden sind, wie hier in diesem Buch über die ‚Teutsche‘ Sprache.
Auf jeden Fall muss ein Wissen um die symbolische Bedeutung der Säulen vorhanden gewesen sein, sonst wären diese nicht in derartiger Form abgebildet worden. Unabhängig davon, ob dieses Wissen der christlichen Lehre (Altes Testament) oder dem Wissen über die Thora (Fünf Bücher Mose) entstammt.
Die Symbolik des Einbandmotives
Diese zwei bronzenen Säulen am Eingang des Tempels werden also mit Jachin und Boas benannt:
Die Säulen stellte er vor dem Tempel auf, die eine auf der rechten, die andere auf der linken Seite. Die rechte nannte er Jachin, die linke Boas. 2.Chronik 3,17
Der Eingang zum Tempel hat also eine tiefe Bedeutung, beim Eintritt in den Tempel gelangt der Mensch in „höhere“ Welten. Der Tempel steht nicht konkret hier auf Erden, es ist ein mystisches Bild und dieser Tempel ist in der jenseitigen Welt des Menschen eine Realität. In der Mystik wird auch davon gesprochen, dass das Wort (G-ttes) sich öffnet, wenn der Mensch den Weg zu sich Selbst geht. Die Innenwelten des Wortes offenbaren dem Menschen die wahre Bedeutung des Wortes im Wesentlichen. Das Wort G-ttes kommt aus dem Ewigen. Als G-tt dem Menschen bei der Schöpfung die Neschamah, die göttliche Seele in die Nase einbläst, bläst er ihm so gesehen auch das Wort, die Sprache ein. Nur der Mensch hat die göttliche Seele und die Sprache, Tiere haben nur eine Leibseele, die nefesch.
Somit passt diese symbolische Bedeutung zum Einbandmotiv des erwähnten Buches sehr gut. Sprache ist nichts Menschen-gemachtes, sie ist von G-tt gegeben. Wer durch die Säulen hindurchschreitet, der kommt in den inneren Kern des Wortes, versteht das Wesen der Worte und der Sprache. Deswegen darf eine Sprache auch nicht durch Rechtschreibreformen künstlich verändert werden, muss mit großem Respekt als etwas aus einer anderen Welt betrachtet werden.
Letztendlich stehen die zwei Säulen auch stellvertretend für die Zweiheit dieser Welt.
Die wesentliche Bedeutung der Säulen Jachin und Boas aus Sicht des alten Wissens
Die beiden Säulen stehen am Eingang des Tempel-Palastes und es sind die einzigen Säulen des Tempels, die Namen haben. Dort angekommen nähert sich der Mensch dem Ende des Weges durch den gesamten Tempel, durch die gesamte Tempelanlage, wo am Ende die Einheit mit G-tt im Allerheiligsten steht. Beim Übergang vom 6. in den 7. Himmel wird auch vom Marmor gesprochen. In der letzten Halle ist alles voller Marmor. Jeder Mensch wird dort geprüft und die Engel fragen einen: „Was siehst Du dort?“ Sag dann nicht ‚Wasser‘, heißt es (Wasser ist das Symbol der Zeit im alten Wissen), sonst stürzen die beiden Säulen auf Dich und begraben Dich, dann stürzt die Materie über Dich, die harte steinerne Wirklichkeit. Denn so weit gekommen, sollte es dort eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Zeit etwas Ewiges ist und dass alle Zeitmomente zusammen den großen Bau der Harmonie bilden.
Sehen wir dort Wasser, dann sind es in Wirklichkeit die Mauern, die wir uns selber durch unser Weltbild aufbauen, weil wir denken uns schützen zu müssen. Dadurch spalten wir uns vom wahren Leben jenseits dieser Säulen ab, von der Quelle des wahren Lebens. Denn der Marmor trägt das Muster des Wassers und wer nicht mit dem wahren Auge sieht und verblendet ist und dort Wasser sieht, der erstarrt. Das Wasser als Symbol der Zeit, das bisher so flüchtig und beweglich war, zeigt sich jetzt so wie es wirklich ist.
Die Säule, die im Süden steht, hat den Namen Jachin, die im Norden steht Boas. In der Überlieferung heißt es, dass Jachin beim Hineingehen in Richtung Westen an der linken Seite steht. Doch heißt es in der Bibel, dass Jachin rechts ist, während man auf das Allerheiligste zugeht, also nach Westen gerichtet ist. Was hat es mit dieser Umkehrung auf sich? Es heißt, dass alles, was man sieht, wenn man den Tempel betritt, das Entgegengesetzte ist, was man sieht. Das, was man noch am Eingang sieht, zeigt ist im Wesentlichen, in der Welt des Schatten G-ttes aus gesehen so, dass es die andere Seite ist. Das ist etwas Unbegreifliches.
Beim Hineingehen stimmen die Dinge nach der Wahrnehmung des Menschen aus, aber nicht nach den Gegebenheiten der Bibel, nicht vom Wort aus, das gerade von dort kommt! Beim Zurückgehen aus dem Tempel-Palast heraus stimmt es mit der Bibel überein, aber nicht mehr mit dieser Realität. Dort muss erkannt werden, dass alles eine Einheit ist, die beide Seiten umfasst! Auch Jachin und Boas wird dann als eine Einheit erkannt und gesehen.
Bis zu dieser Grenze der beiden Säulen gibt es den freien Willen des Menschen und jeder kann entscheiden, wie es weitergeht. Um über diesen Abgrund zu kommen, also diese beiden Säulen zu durchschreiten, muss der Mensch loslassen, muss sich aufgeben und hingeben. Er muss seine weltlichen Fähigkeiten abgeben und loslassen und dies, nachdem er bereits im dritten Tempelvorhof seine ganze Existenz, sich selbst komplett hingegeben hat, um das korban zu vollbringen. Beim Eintritt in den Palast wird erkannt, dass doch trotzdem schon immer alles vorbestimmt war und in dieser nun kommenden Welt der olam aziluth, der Welt des Schatten G-ttes vorhanden ist. Dort ist schon alles vom Anbeginn der Schöpfung gefügt, geordnet und vorherbestimmt.
Doch in unserem Leben hier bis ‚vor‘ den Säulen herrscht die harte Wirklichkeit, wir haben vergessen und erleben das Leben individuell herausfordernd und hier herrscht der freie Wille.
Dieser Artikel ist Jochanan Massorah zum Dank gewidmet