
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, ist ein bekannter Spruch aus dem neuen Testament. Auch in der jüdischen Überlieferung spricht Friedrich Weinreb viel über den Begriff des Nächsten und was dieser auf Hebräisch bedeutet. Wahrscheinlich wirst du überrascht sein, mit welchen Worten dieser Begriff verwandt ist. Warum das kein Zufall ist und welcher Sinn dahinter steckt, darum geht es in diesem Beitrag.
Friedrich Weinreb verwendet den Begriff הַרֵעַ (ha‑réa) für „der Nächste“.
Das Wort רֵעַ (réa, Nächster) ist eng verwandt mit רָע (ra, Böse).
Die Worte Nächster, Freund, Gegenüber werden somit genau mit den gleichen Konsonanten geschrieben wie die Worte für böse, schlecht.
„Der Nächste ist also auch derjenige, der übel gesonnen ist, der Feind. Auf höchster Ebene ist Gott »der Nächste”; er steht als einziger dir als einzigem gegenüber. Und er ist derjenige, der das Ra macht. Denn für dich schuf er den Raum, durchbrach er die Einheit: das bedeutet Ra. Ra entsteht, damit Einswerdung möglich wird, um die Kraft schenkender Liebe zu entfesseln.“
Friedrich Weinreb, Leben im Diesseits und Jenseits 32f
Das Böse ist nicht einfach moralisch gesehen das Gegenteil des Guten. Das Böse ist nichts, dass ich einfach zu bekämpfen habe, sondern es ist Teil meines Weges zur Einheit, Teil meines Durchlebens zur Einswerdung, zur Liebe.
Die Begegnung mit dem Nächsten – egal auf welcher Ebene, mit einem Menschen, Tier, Gedanken, mit G-tt – ist nicht immer liebevoll, sondern oft unangenehm und herausfordernd, denn wenn wir uns dem Nächsten öffnen, treten wir in den Raum der Zweiheit, der Spaltung und das ist zugleich der Ort, wo „das Böse“ sich zeigt und erfahrbar wird.
Der oder das Nächste ist zugleich der Feind, das Böse, weil durch seine Existenz die Einheit zerbricht. Wir können uns dem Fremden gegenüber ablehnend verhalten oder uns ihm hingeben – um zu erkennen, was wirklich in ihm steckt – im Bewusstsein, dass es Teil der zerbrochenen Einheit ist und uns auf den Weg bringt.
Der Talmud erzählt von einem Heiden, der Jude werden wollte und sich zu einem der größten Tannaim begab, zu Schammai, mit der Frage, ob er ihm das Judentum erklären könne, während er, der Heide, auf einem Fuße stehe. Schammai warf ihn aus dem Haus. Da begab er sich zu einem anderen Großen, zu Hillel, mit derselben Frage, und Hillel antwortete ihm: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst”, und sagte: „Das ist das ganze Judentum. Das übrige lernst Du schon von selber.”