Das böse Auge und der Kuß des Judas

„Die Zeit verbirgt den Menschen. Man sagt auch, daß sie ihn vor dem „bösen Auge“ verberge, ähnlich wie die Fische im Wasser vor uns verborgen sind. Das „böse Auge“ kann nur dann etwas gegen den Menschen ausrichten, wenn er deutlich zu sehen ist. Das „böse Auge“, „ajin ho-ra“, trachtet danach, den Menschen deutlich zu erkennen, um ihn zu vernichten; denn das Kommen des Menschen läuft darauf hinaus, daß der Entwicklung ein Ende gesetzt wird und eine Umkehr, zurück zum Ursprung, stattfinden muß.

Der Mensch hat nämlich die Kraft des Ursprungs, die Neschamah, in sich und diese sorgt dafür, daß er dahin zurückkehrt. Alles, was Natur, was normal ist, setzt sich dagegen zur Wehr. Aus diesem Grunde hüllt Gott den Menschen in ein Gewand aus Tierfell und macht ihn so unerkennbar – ähnlich wie auch Rebekka ihren Sohn Jakob verkleidet. Auf diese Weise wird er davor bewahrt, getötet zu werden und seiner Bestimmung zugeführt.

Diese Einkleidung oder Umhüllung bestimmt den Menschen zum Leben in der Zeit. Darum heißt es auch, Adam habe zuerst durch alle Zeiten und Räume hindurchsehen können, in großer Klarheit alles gefüllt, und sei auch von allem als solcher erkannt und anerkannt worden. Doch gerade in dieser großen Klarheit erregt er die Aufmerksamkeit der „Schlange“, und das ist das erstemal, daß das böse Auge auf den Menschen fällt. Es bringt ihn dazu, vom Baum der Erkenntnis zu nehmen und liefert ihn damit an den Tod aus. Der Mensch verliert nun seine Klarheit, er taucht unter in das Wasser. Hier in der Zeit wird er unsichtbar für das Auge des Bösen, das so sehr darauf aus ist, ihn wieder zu erkennen. Jakob wird darum der Segen im Zustand der Umhüllung gespendet, das heißt in dieser Welt der Zeit.

Die Überlieferung berichtet (Pirke de R. Elieser XX), daß Adam nach dem Genuß der Frucht vom Baum der Erkenntnis seinen Leib in den Gichon eintauche, den zweiten der vier aus Eden kommenden Flüsse. Mitten im Strom bleibt er stehen, nur sein Haupt ragt aus der Wasseroberfläche, welche die vier Teile seines Leibes verbirgt (Man erkennt die vier Teile als: 1. Vom Nacken bis zum Hüftgelenk. 2. Die Schenkel bis zum Kniegelenk. 3. Das Bein bis zum Fuße und 4. den Fuß selbst.). Das Wort Gichon, 3-10-8-6-50, ist seiner Struktur nach verwandt mit dem Worte Gachon, 3-8-6-50, d.h. Bauch. Mit dem Bauche erhält jetzt die Schlange ihre enge Verbindung mit der Erde. Nun nimmt die Welt der Zeit ihren Anfang. Adam vermag nicht mehr durch die Zeiten hindurchzuschauen, die anderen Welten entschwinden seinem Gesichtskreis, und er kann nur mehr wahrnehmen, was ihn unmittelbar umgibt. Zugleich ist er aber auch dem suchenden bösen Auge entzogen, das ihn stets von neuem zu schädigen sucht.

Darum tritt der Mensch in die Welt der Fische ein. Hier ist er beschirmt. Seine Bestimmung liegt aber anderswo. In dem Segen, den der alte Jakob den Josephssöhnen Ephraim und Manasse erteilt, heißt es wörtlich, daß sie sich wie Fische auf Erden, also auf dem Trockenen, vermehren werden (man vergl. 1. Mose 48, 16 ff.). Der Segen besitzt die Kraft, daß es dem Menschen in der Tat möglich wird, dem ihn verfolgenden bösen Auge frei und stark gegenüberzutreten. Hier zeigt sich der Sinn des Verbergens, ja des Verbergens vor Gott. Es ist ungut, daß die 36 Zadikim erkannt werden, es liegt im Gegenteil alles daran, daß sie verborgen bleiben. Auch der Prophet Eliah tritt stets im Verborgenen auf. Erst wenn er wieder fort ist, läßt sich vermuten, oder annehmen, daß er es war. Der große Mensch will als solcher nicht erkannt werden, unter die anderen will er sich mengen und, durch sie gleichsam bedeckt, im Ganzen aufgehen. So läßt sich auch im Neuen Testament die fortgesetzte Zurückhaltung Jesu erkennen, der nicht will, daß man über ihn redet und ihn bekanntmacht. So kommt denn auch das Ende in dem Augenblick, wo Judas ihn unmißverständlich durch seinen Kuß „auszeichnet“. Damit gibt er ihn dem bösen Auge preis, das auf seinen Untergang sinnt. Es ist eine Gnade für den Menschen, daß Gott ihn in der Zeit untertaucht, und doch weiß der Mensch, daß er einst aus seinem Element herausgeholt werden wird, geradeso wie die Fische.“

Friedrich Weinreb, Das Buch Jonah, S. 140-142