Das Perlenlied (auch „Seelenhymnus“ genannt) ist ein Text aus der frühchristlich-gnostischen Welt und gehört zu den Thomas-Akten. Dieses Lied steht im engen Zusammenhang zu den 114 Sprüchen des Thomas-Evangeliums und den Hymnen und Psalmen aus dem Umkreis der Thomas-Tradition. Das Perlenlied, das Thomas selber singt, als er im Gefängnis sitzt, soll gesungen zu seiner starken Wirkung kommen und ist ein mythisches Bild der Reise eines Prinzen in ein fernes Land des Westens, wo er die verlorengegangene Perle des Königsschatzes zurückgewinnen soll, um somit das Königreich in seiner Einheit wieder herzustellen.
„Im Perlenlied, das man auch den Hymnus von der Seele genannt hat, ist eine Fülle von geheimnisvollen Bildern zu finden, die alle dazu beitragen, das Schicksal des Menschen (und seiner Seele), seinen Auftrag und seine Schuldverstrickung einsichtig zu machen. Er wird dabei nicht allein gelassen, sondern bekommt Hilfestellung geleistet und wird aus dem Dunkel gerettet, muß sich aber in einer entscheidenden Situation bewähren, damit er in die Heimat zurückkehren kann, aber nun mündig geworden und gereift, so daß er fähig ist, die Krone zu tragen und das Erbe anzutreten.“
Perlenlied und Thomasevangelium S.38, von Otto Betz und Tim Schramm
Das Perlenlied – Hymnus von der Seele
Als er (Thomas im Gefängnis) betete, erblickten ihn all die Gefangenen und baten ihn, für sie zu beten. Nachdem er gebetet hatte, setzte er sich nieder und begann folgendes Lied zu rezitieren:
Als ich ein kleines Kind war und in meinem Königreiche, in meinem Vaterhause, wohnte und mich erfreute am Reichtum und an der Pracht meiner Erzieher, entsandten mich meine Eltern vom Osten, unserer Heimat, nachdem sie mich ausgerüstet hatten.
Und aus dem Reichtum unseres Schatzhauses schnürten sie mir eine Last zusammen, groß, doch leicht, so daß ich sie allein tragen konnte:
Gold vom Hause der Hohen und Silber vom großen Gazak,
Chalzedone aus Indien und Achate vom Reiche Kuschan.
Und sie umgürteten mich mit dem Diamant, der Eisen ritzt, und sie zogen mir das strahlende Gewand aus, das sie mir in ihrer Liebe gemacht hatten, und die purpurne Toga, die nach dem Maße meiner Gestalt gewebt war.
Und sie schlossen mit mir einen Vertrag
und schrieben ihn mir in mein Herz, damit er nicht in Vergessenheit gerate:
„Wenn du nach Ägypten hinabsteigst und die Perle bringst,
die in der Mitte des Meeres ist, das der zischende Drache umschließt,
dann sollst du dich wiederum in dein strahlendes Gewand und in deine Toga kleiden, die darauf liegt, und sollst mit deinem Bruder, unserem Zweiten, Erbe in unserem Reiche sein.“
Ich brach auf vom Osten und stieg hinab, geleitet von zwei Wächtern,denn der Weg war gefährlich und schwierig und ich war zu jung, ihn zu gehen.
Ich durchschritt das Gebiet von Maischan, dem Treffpunkt der Kaufleute des Ostens, und kam zum Lande Babel und betrat die Mauern von Sarbug.
Ich stieg hinab nach Ägypten und meine Gefährten verließen mich.
Ohne Umweg ging ich zum Drachen, nahm Wohnung nahe bei seiner Stätte,
bis er schlummern und schlafen würde und ich die Perle ihm wegnehmen könnte.
Und da ich völlig allein und den Mitbewohnern meiner Herberge ein Fremder war,
erblickte ich dort einen Mann meines Stammes, einen Edelmann aus dem Osten,
einen schönen und anmutigen Jüngling, einen Sohn Gesalbter;
und er kam und hing mir an;ich machte ihn zu meinem Freund und meinem Gefährten
und ließ ihn teilhaben an meinem Handel.
Ich warnte ihn vor den Ägyptern und vor den Beziehungen zu den Unreinen.
Ich aber bekleidete mich mit ihren Gewändern, damit sie nicht gegen mich Verdacht schöpften,
ich sei von auswärts gekommen, um die Perle zu nehmen,
und damit sie nicht den Drachen gegen mich aufweckten.
Aus irgendeinem Grunde jedoch bemerkten sie, daß ich nicht einer der Ihren war.
Und sie näherten sich mir listigerweise und gaben mir ihre Nahrung zu essen.
Ich vergaß, daß ich ein Königssohn war, und diente ihrem König.
Und die Perle vergaß ich, um derentwillen mich meine Eltern entsandt hatten;
und durch die Schwere ihrer Speisen versank ich in tiefen Schlaf.
Aber all dies, was sich mit mir begab, ward meinen Eltern kund und sie trauerten meinetwegen.
Und in unserem Königreiche wurde verkündet, daß ein jeder zu unserem Tore komme:
Die Könige und Häupter von Parthien und alle Großen des Ostens;
und meinetwegen faßten sie einen Entschluß, daß man mich nicht in Ägypten lassen solle.
Und sie schrieben einen Brief an mich, und jeder Große unterfertigte ihn mit seinem Namen:
„Von deinem Vater, dem König der Könige, und deiner Mutter, der Herrin des Ostens,
und von deinem Bruder, unserem Zweiten, dir, unserem Sohne in Ägypten, Gruß.
Auf, erhebe dich von deinem Schlaf und höre auf die Worte unseres Briefes.
Erinnere dich, daß du ein Königssohn bist.
Siehe die Versklavung, siehe wem du dienst!
Entsinne dich der Perle, derentwegen du nach Ägypten geschickt wurdest!
Erinnere dich deines strahlenden Gewandes und gedenke deiner prächtigen Toga, die du tragen sollst und mit der du geschmückt sein sollst, daß im Buche der Starken dein Name gelesen werde!
Und mit deinem Bruder, unserem Stellvertreter, zusammen sollst du Erbe in unserem Reiche sein!“
Der Brief war ein Brief, den der König mit seiner Rechten versiegelt hatte
vor den Bösen,den Leuten von Babel und den wilden Dämonen von Sarbug.
Er flog wie ein Adler, der König der Vögel.
Er flog und ließ sich neben mir nieder, als ganzer wurde er Wort.
Bei seiner Stimme, dem Geräusch seines Rauschens, erwachte ich und erhob mich von meinem Schlaf; ich nahm ihn auf und küßte ihn und löste sein Siegel und las.
Ich entsann mich, daß ich ein Königssohn sei
und daß meine Freiheit nach Verwirklichung dränge.
Ich erinnerte mich an die Perle, um derentwillen ich nach Ägypten gesandt worden war,
und ich begann den laut schnaubenden Drachen zu beschwören.
Ich versenkte ihn in Schlummer und Schlaf, da ich den Namen meines Vaters über ihm aussprach
und den Namen unseres Zweiten und den meiner Mutter, der Königin des Ostens.
Und ich ergriff die Perle und wandte mich um, in mein Vaterhaus zurückzukehren.
Und ich zog ihr schmutziges und unsauberes Gewand aus und ließ es in ihrem Lande zurück.
Und ich nahm meinen Weg zum Licht unseres Landes, zum Osten.
Und meinen Brief, meinen Erwecker, fand ich auf dem Wege vor mir;
wie er mich durch seine Stimme geweckt hatte, so führte er mich nun mit seinem Lichte.
Auf chinesischem Stoff mit Rötel geschrieben, mit seinem Aussehen vor mir strahlend,
mit der Stimme seiner Führung gab er mir Mut und zog mich mit seiner Liebe;
ich zog vorwärts und durchquerte Sarbug.
Ich ließ Babel zu meiner Linken und gelangte zum großen Maischan,
zum Hafen der Kaufleute am Ufer des Meeres.
Und das strahlende Gewand, das ich abgelegt hatte, und meine Toga, die es umhüllte,
hatten meine Eltern von den Höhen Hyrkaniens durch ihre Schatzmeister hierhergesandt,
die wegen ihrer Treue damit betraut wurden.
Und wiewohl ich mich nicht seiner Würde entsann – denn ich hatte doch mein Vaterhaus in meiner Kindheit verlassen –, so wurde das strahlende Gewand doch plötzlich,als ich es mir gegenüber sah, wie mein Spiegelbild mir gleich.
Ich sah es gänzlich in mir und ich sah mich in ihm mir gegenüber,
denn wir waren zwei in Verschiedenheit und doch wiederum eins in einer Gleichheit.
Und auch die Schatzmeister, die es mir gebracht hatten, sah ich in gleicher Weise:
Sie waren zwei und doch waren sie gleich an Gestalt.
Denn ein Siegel des Königs war auf sie gedrückt,
dessen, der mir meinen Schatz und meinen Reichtum durch sie zurückstellte,
mein strahlendes Gewand, geziert mit der Pracht herrlicher Farben,
mit Gold und mit Beryllen, Chalzedonen und Achaten und mit verschiedenfarbigen Sardonen.
Es war in seiner Erhabenheit angefertigt worden, mit Diamantsteinen waren alle seine Nähte befestigt, und das Bild des Königs der Könige war in voller Größe überall aufgemalt;
Saphirsteinen gleich waren seine Farben gewirkt.
Ich sah, daß in seinem ganzen Umfang die Bewegungen meiner Erkenntnis aufzuckten,
und ich sah, daß es sich bereitmachte wie zum Sprechen.
Ich hörte den Laut seiner Melodien, die es flüsterte bei seinem Herabkommen:
„Ich gehöre zum hurtigsten Diener, den sie vor meinem Vater großgezogen haben,
ich habe in mir verspürt, daß meine Gestalt mit seinen Werken wuchs.“
Und mit seinen königlichen Gesten streckte es sich mir entgegen
und es eilte an der Hand seiner Überbringer, daß ich es nähme.
Und auch mich trieb meine Liebe an, ihm entgegenzueilen und es zu empfangen.
Und ich streckte mich hin und empfing es.
Mit der Pracht seiner Farben schmückte ich mich
und ich hüllte mich ganz in meine Toga von glänzenden Farben.
Ich kleidete mich in sie und stieg auf zum Tor der Begrüßung und der Anbetung.
Ich beugte mein Haupt und verehrte den Glanz meines Vaters, der es mir gesandt hatte,
dessen Befehle ich befolgt hatte, so wie auch er tat, was er verheißen hatte;
und am Tore seiner Satrapen gesellte ich mich zu seinen Großen,
denn er hatte Wohlgefallen an mir und nahm mich auf,und ich war mit ihm in seinem Reiche.
Und beim Klange von Wasserorgeln priesen ihn alle seine Diener dafür,
daß er verkündete,daß ich zum Tore des Königs der Könige gehen solle
und mit der Opfergabe meiner Perle mit ihm zusammen vor unserem König erscheinen solle.
Übersetzt von M. Bonnet, Leipzig 1903
Die Bedeutung des Gleichnisses
Kommt dir dieses Gleichnis vom Aufbau bekannt vor? Vielleicht kennst du die Josephsgeschichte in der Bibel, wo Joseph ebenso nach Ägypten kommt und seine Herkunft vergißt. Er wird schließlich ins Gefängnis geworfen, bis er aufgrund seiner Traumdeutung dann daraus befreit wird und letztendlich wieder mit seinem Vater und seinen Brüdern vereint wird.
Es ist der Weg eines jeden Menschen hier auf Erden, der in vielerlei Gleichnissen bzw. Parabeln erzählt wird.
So gibt es auch die bekannte Parabel vom verlorenen Sohn im Lukas-Evangelium.
Im Matthäus-Evangelium wird vom Gleichnis vom Kaufmann und der Perle geschrieben:
„Das Himmelreich gleicht einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, und als er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie“
Matthäus 13, 45-46
Ebenso im Matthäus-Evangelium, Kapitel 22:9-14, gibt es den Abschnitt über das Hochzeitsmahl und den Mann, der ohne Hochzeitsgewand zur Hochzeit erscheint.