Seit der Renaissance und des Aufkommens des naturwissenschaftlichen Denkens ist der Geist der Zeit so, dass geglaubt wird, der Mensch müsse immer selbst etwas tun, um etwas zu erreichen. Das ‚Tun‘ wird hier so verstanden, dass ein kausaler Zusammenhang dabei sichtbar werden muss. Als einfaches Beispiel dieser Denkweise wäre anzuführen, dass wenn ich Geld für etwas ausgebe, ich auch etwas Bestimmtes dafür bekommen muss. Doch der Mensch früher, den jeder von uns auch in sich trägt, wusste, dass auf der einen Seite dort zwar wirklich ein kausaler Zusammenhang besteht, dass dieser aber auf der anderen Seite auf eine andere Art wirkt. Dieser Zusammenhang ist nicht so oberflächlich, wie wir es in der heutigen Denkweise in unserem Leben zu beobachten glauben.
Es wird im alten Wissen gesagt, dass trotzdem alles seine Wirkung hat, doch wann die Folge eines bestimmten ‚Tuns‘ eintritt, kann nicht vorhergesagt oder gesehen werden. Die Folge kann höchstens erwartet werden. Es ist nicht so, dass auf ein bestimmtes Tun unmittelbar etwas folgt, dass der Mensch sehen oder begreifen kann.
Geht der Mensch den Weg zu seiner Seele, seinem Selbst, dann kommt er über die erste Schwelle hinweg in die Welt des ,pschat‘, wo die Zusammenhänge gezeigt werden und wo der Mensch dann auch sieht, dass er diese davor nicht sehen konnte, auch wenn sie offensichtlich waren. Und trotzdem muss alles logisch bleiben, ein zusammenhängendes Ganzes sein.
Um diesen Weg zum ,pschat‘ gehen zu können, muss die Welt, in der wir leben, relativiert werden. Denn es geht doch um das Leben hier, mit allem, was es enthält, nichts ist auf dem Weg ausgeschlossen. Schließt man dieses Leben hier aus, kann man gar nicht zu dieser anderen Welt kommen. Dieses Leben wird mitgenommen. Beim Auszug aus Ägypten wird deshalb auch erzählt, dass man bei der Befreiung Ägypten leer macht; man nimmt es mit (2. Mose 12,63).
Der Weg, der zu gehen ist, ist der Weg, auf dem dieses Leben seinen Sinn bekommt, auf dem jedes Ereignis und auch das kleinste Geschöpf seine Bedeutung und seinen Zweck hat. Alles muss als ein zusammenhängendes Ganzes gesehen werden, es muss ’stimmen‘, aber nicht so sehr im Sinn des Äußeren.
Der Begriff des über die Schwelle hinüber Kommens heißt, dass der Mensch diese Realität hier so sehen lernen muss, dass er sie vollständig relativieren kann. Das heißt, dass diese Realität trotzdem weiterhin vorhanden ist und trotzdem jetzt eine Schwelle in eine andere Realität überschritten wird, wo auch Dinge häufig im Gegensatz zu hier geschehen können. Dort sieht alles ganz anders aus, dort gibt es ganz andere Maßstäbe für ‚Groß‘ und ‚Klein‘, sind ganz andere Menschen ausschlaggebend für den Gang der Welt, als es in der uns bekannten Welt zu sein scheint.
So heißt es auch in den Seligpreisungen:
Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Matthäus 5,1-12a
Derjenige, der ‚arm‘ am Denken in der rein diesseitigen Welt der Ursache und Wirkung ist, der diese Welt relativieren kann, der kommt über die Schwelle in diese andere Realität. Die Welt hier muss losgelassen werden können, um dorthin zu gehen, um dort das Land zu erben.
Es braucht das Vertrauen, dass alles gut ist, so wie es ist. Denn entscheiden ist, wie es dort ist.
Es gibt Menschen, die diese Welt nicht loslassen können, sie können dann auch nach dem Tod die Schwelle nicht überschreiten, weil ihnen das Vertrauen fehlt.
Doch wo sind die Beweise für diese andere Realität?
Es ist nicht im Himmel, sodass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, sodass du sagen müsstest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten. Deuteronomium 30,12-14
Es wird in diesem Zitat deswegen als Antwort auf diese Frage gesagt, dass du es in dir selbst suchen sollst, denn jeder Mensch hat den ,pschat‘ in sich, jeder Mensch kann diese Schwelle überschreiten. Friedrich Weinreb sagt, dass jeder Mensch mit seinem eigenen Verstand, ,sechel‘, 300-20-30, dies alles selber messen und prüfen kann. Und er muss es messen und prüfen, um die Orientierung in seinem Leben zu behalten bzw. um sie zu bekommen.